Soziale Herkunft entscheidet über Bildungserfolg
Ist arm gleich dumm?
Bereits am 25.Juni riet die Direktive 54 des Alliierten Kontrollrats Deutschland zur Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems. „Der Aufbau des deutschen Schulsystems betont den Klassengeist. Schon im Alter von 10 Jahren sieht sich das Kind eingruppiert oder klassifiziert durch Faktoren, auf die es keinen Einfluss hat, wobei die Einstufung fast unvermeidlich seine Stellung für das ganze Leben bestimmt. Diese Haltung hat bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf dem das autoritäre Führerprinzip gedieh.“, hieß es da.
Als der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Munoz, 60 Jahre später Deutschland bereiste, kritisierte auch er die große Chancenungleichheit im mehrgliedrigen Schulsystem. In seinem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat in Genf konstatierte er, dass das mehrgliedrige Schulsystem mit Real-, Haupt-, Sonderschule und Gymnasium für Kinder aus armen Elternhäusern und Migrantenfamilien eine große Benachteiligung darstellt. Das deutsche Schulsystem wirke „extrem selektiv“ und diskriminiere Behinderte, so Munoz. Außerdem legte er der Bundesrepublik „eindringlich nahe“ das mehrgliedrige Schulsystem „noch einmal zu überdenken“. Ähnlich äußerten sich auch die internationale Kinterrechtsorganisation UNICEF und der Leiter der internationalen PISA-Studien Andreas Schleicher.
„Die Barrieren sind in den Köpfen, sie sind im Bildungs- und Ausbildungssystem und im Handeln der Politiker“ (Marianne Demmer, GEW)
Diese Thesen stießen bei deutschen Bildungspolitikern auf regen Widerspruch. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) stellte das mehrgliedrige Schulsystem beispielsweise als „Erfolgsgeschichte“ dar. „Schönreden“, nennt das Marianne Demmer, die Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), und fordert die Bildungspolitiker dazu auf, endlich die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von sozialer Herkunft zu überwinden. Unrecht hat sie damit nicht, schließlich sprechen etliche in den letzten Jahren veröffentlichte Statistiken und Studien gegen die Behauptung, das mehrgliedrige Schulsystem sei eine Bereicherung und der individuellen Förderung zuträglich.
Hier einige Fakten:
Eine Studie der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) besagt, dass der Bildungserfolg von Kindern in Deutschland in starkem Maße von der sozialen Stellung ihrer Eltern abhängt und die Chancen von Kindern aus Einwandererfamilien besonders schlecht sind.
In Deutschland schreiben sich 83 von 100 Akademikerkindern auf Hochschulen ein, während Kinder aus Familien ohne akademische Tradition dort nur zu 23 Prozent vertreten sind. Nur acht von 100 Studierenden sind Migrantenkinder, obwohl rund ein Fünftel der Bevölkerung unter 25 Jahren einen Migrationshintergrund aufweist.
Für die meisten Akademikerkinder ist eine gymnasiale Laufbahn von Lehrern und Eltern vorgesehen, während bei gleicher Leistung Arbeiterkinder im Durchschnitt zweieinhalbmal weniger Chancen auf eine Gymnasialempfehlung haben.
Jeder zehnte Jugendliche verlässt die Schule ohne Abschluss und ohne Aussicht auf einen Ausbildungsplatz, jeder zweite Hauptschüler bekommt keinen Ausbildungsplatz.
Das Armutsrisiko von Kindern in Deutschland liegt bei 14 Prozent, wobei der Zugang zu Bildung für benachteiligte Gruppen (z.B. Kinder aus finanziell schwachen Haushalten und/oder mit Migrationshintergrund) verbessert werden muss, um dies zu bekämpfen.
Nach einer Studie des Kinderhilfswerks World Vision, bei der 1600 Kinder befragt wurden, fühlen sich Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern schon im Alter von 8 bis 11 Jahren für den Rest ihres Lebens benachteiligt.
Weltweit verteilt außer Deutschland nur noch Österreich die Kinder so früh auf verschiedene Schulformen.
All diese Zahlen zeigen eindeutig auf, dass durch das mehrgliedrige Schulsystem im Übermaß sozial selektiert wird, was die frühzeitige Entfremdung von Kindern aus unterschiedlich sozialisierten Gesellschaftsgruppen, unnötige Stigmatisierung, Ausgrenzung und Intoleranz zur Folge hat.
Diese verfrühte Klassifizierung von Kindern halten wir für gesellschaftlich fatal und inkorrekt. Wir fordern eine demokratische Schule, die es mit Hilfe von alternativen Unterrichtsformen, didaktisch und pädagogisch ausreichend ausgebildeten Lehrern und genügend und gut ausgestatteten Räumlichkeiten möglich macht, jedes Kind optimal zu bilden, zu integrieren und zu fördern, wobei das Erlernen demokratischer und sozialer Verhaltensweisen, welches im jetzigen Schulsystem nur schwer möglich ist, einen wichtigen Teil der (Aus-)Bildung ausmachen sollte.
Dieser Aufgabe kann das gegliederte Schulsystem nicht gerecht werden, der einzige sozial gerechte und vertretbare Weg liegt also in einer Gesamtschule, die die Schüler zumindest für die Dauer der Pflichtschulzeit gemeinsam besuchen.