Erschienen im Juli 2010 in:
Kritische Lehrer_innen. Kein Handbuch.

Das InSeL – ein Institut für selbstbestimmtes Lernen

Maya Dolderer

1. Von der Notwendigkeit der „Landgewinnung“

Am Anfang war das Unbehagen. Zum einen das Unbehagen mit den Lernformen und -inhalten in den Lehramtsstudiengängen der Universitäten und zum anderen das Unbehagen vor der Sozialisationsmaschine Referendariat.

das Unbehagen an der Universität

Während des Studiums wurde mir und vielen Menschen in meinem Umfeld, in verschiedenen selbstorganisierten Seminaren und schulkritischen Gruppen eine Sache immer klarer: Dass das, was wir im Lehramtsstudium lernten, auf eine Praxis vorbereitete, die wir ablehnten. Didaktische Aufbereitung von Inhalten, Portionierung von scheinbar objektivem Wissen in kleine, leicht verdauliche Häppchen, motivierende Einstiege in ein Thema, das für Schüler_innen uninteressant ist, „faire“ Methoden der Leistungsbewertung: Im Optimalfall hätten wir das Zeug zur „guten Lehrerin“ bzw. zum „guten Lehrer“ – einer Person, die in dem selektierenden und normierenden System funktioniert und dabei auch noch den Anschein erwecken kann, dass das Ganze mit Spaß zu haben ist.

In der Auseinandersetzung mit alternativen Lernformen wurde uns jedoch deutlich, dass es eine andere Bildungspraxis gibt. Gleichzeitig wurde klar, dass wir mit dieser Praxis noch nicht klar kommen und noch viel lernen bzw. verlernen müssen. Wir müssten beispielsweise lernen, für Erfahrungen, die die eigene Weltsicht in Frage stellen, offen zu sein; wir müssten lernen, gleichberechtigt miteinander umzugehen trotz oder in Bezug auf unsere unterschiedliche gesellschaftliche Positionierung als Kind/Erwachsene, Frau/Mann usw.; wir müssten das Voneinander-Lernen lernen, lernen Hierarchien laufend zu hinterfragen und abzubauen und ungerechte Situationen zu verändern.

Hinzu kam die Rückmeldung von vielen demokratischen bzw. anderen alternativen Schulen, dass es schwer sei, geeignetes Personal für diese Schulen zu finden. Wer ein Lehramtsstudium abgeschlossen habe, sei meist nicht in der Lage, mit der eigenen Freiheit und der der Schüler_innen umzugehen. Es gab also vieles zu lernen, aber keinen Ort dafür.

das Unbehagen vor dem Referendariat

Als nach und nach immer mehr meiner Freund_innen aus schulkritischen oder alternativpädagogischen Kontexten mit dem Referendariat begannen, taten viele ihre ehemaligen Mitstreiter_innen als praxisfern und weltfremd ab. Ich erinnere mich an viele Gespräche, in denen Freundinnen schimpften, dass das mit der Selbstbestimmung ja nett sei, aber mit ihren Schüler_innen völlig unrealistisch. Der Eindruck, dass das Referendariat die Menschen formte, dass die meisten ihre Vorstellungen von einer weniger menschenverachtenden Praxis aufgaben und sich an die Pädagogik der Regelschule anpassten, verstärkte sich immer mehr. In meinem Umfeld breitete sich die Referendariatspanik aus: Wer es vermeiden konnte, wählte einen anderen Weg.

Um in dem Schulsystem etwas zu verändern, und mit dieser Hoffnung hatten ja viele von uns das Lehramtsstudium angetreten, waren wir also entweder völlig falsch ausgebildet oder wir hatten die Sozialisationsmaschine Referendariat noch vor uns, von der wir annahmen, dass wir uns gegen sie nicht wehren könnten. So entstand in verschiedenen Gesprächen und Gruppen die Idee, einen eigenen Lernort zu gründen, in dem wir uns selbstbestimmt und gleichberechtigt mit unseren Fragen, Themen und Ideen auseinandersetzen können, der die Strukturen bereitstellt, dass Wissen zwischen Generationen weitergegeben wird, der Kontinuität von Netzwerken sichert, an dem eine neue Praxis des miteinander Lernens und Lebens etabliert wird. Ein Institut für selbstbestimmtes Lernen, kurz: ein InSeL.

2. Eine InSeL-Utopie

Obwohl das InSeL mittlerweile mehr als eine vage Vorstellung, sondern schon eine Gruppe von Menschen ist, die sich mit gemeinsamen Zielen zusammengeschlossen hat, besteht sie vor allem aus den verschiedenen Utopien, die die Teilnehmenden einzeln und gemeinsam für ihr Lernen entwickelt haben, und den verschiedenen Strategien, diesen Utopien näher zu kommen. Deshalb will ich im Folgenden meine momentane Utopie als eine der vielen möglichen vorstellen.

Die eigenen Fragen als Ausgangspunkt

Was ich gerade lernen will, weiß ich selbst am besten. Ich bringe meine Fragen und Problemstellungen aus meinem Leben, meinen bisherigen Erfahrungen mit. Es macht für mich keinen Sinn, wenn andere mir erklären, was ich zu lernen habe, was ich für eine Praxis benötige, die ich nicht kenne und die in ferner Zukunft liegt. Selbstbestimmtes Lernen beginnt in der Gegenwart: Die Fragen, die sich aus meinem (Arbeits-)Alltag ergeben, sind gerade relevant, die Fragen, die aus den Antworten meiner vorigen Fragen resultieren. Niemand anderes kennt meinen aktuellen Lernbedarf besser als ich. In meiner Bildungsutopie sollen deshalb alle Beteiligten selbst entscheiden, mit welchen Themen sie sich beschäftigen wollen.

Wie will ich leben?

Ich übe meine Tonleitern am Klavier, um besser meine Chopin-Etuden spielen zu können, um einmal auf einer Bühne an einem tollen Flügel zu sitzen, Applaus zu bekommen, meine Mutter endlich glücklich zu sehen…? Ach, darum geht es mir? – Oft bin ich mir meiner eigenen Ziele überhaupt nicht bewusst. Deshalb ist mir wichtig, dass ich Gelegenheit habe, darüber nachzudenken, was ich warum lernen will. Die Reflexion meiner vergangenen Lernerfahrungen spielt dabei genauso eine Rolle wie die Überlegung, wie meine Utopien aussehen, welche Welt ich brauche, um glücklich zu sein. Schließlich geht es darum, in der Lage zu sein, die Welt so zu gestalten, dass ich gerne in ihr lebe.

Natürlich ist mir klar, dass es sich bei diesen Überlegungen um offene Prozesse handelt, die nicht abgeschlossen werden dürfen und deshalb nicht jeder Handlung vorausgehen können. Aber ich will sie beim Lernen thematisieren und dazu brauche ich einen Reflexionsraum: Menschen, die mich bei meinen Überlegungen begleiten, mich unterstützen, mich immer wieder mit Spiegelungen meiner selbst konfrontieren und auf Widersprüche aufmerksam machen, aber auch Menschen, mit denen ich Utopien teile, die mich inspirieren, so wie ich sie inspiriere, so dass aus unseren Überlegungen etwas entsteht, das mehr ist als deren Addition.

Praxis und Reflexion

In meiner Bildungsutopie sollen Menschen nicht in künstlichen Situationen für die Zukunft in der „echten Welt“ lernen. Sie leben und handeln in ihrer Alltagspraxis, arbeiten vielleicht an einer Schule, in der politischen Bildung, in ihren Projekten. Erst das Handeln dort gibt Fragen auf, die es in der Reflexion zu bearbeiten gilt. Lernen passiert schließlich selten selbstzweckhaft und auf Vorrat, sondern meist als ein Versuch, der Welt, wie sie sich gerade darstellt, besser gerecht zu werden, sie besser zu verstehen, besser auf sie reagieren zu können. Reflexion ist jedoch in der Praxissituation mit ihren Handlungsnotwenigkeiten nicht immer gut möglich. Deshalb wünsche ich mir einen Raum, in den ich mich aus der Praxis zurückziehen kann, in dem ich, ohne sofort Entscheidungen treffen zu müssen, Zeit habe, meine Motive, die Wahrnehmung der Situation zu hinterfragen und alternative Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Diese Reflexion bedeutet für mich immer, dass es ein Moment des Zweifels geben können muss, in dem meine bisherigen Sicherheiten erschüttert werden. Wenn ich wirklich lernen will, muss ich offen dafür sein, dass die Welt immer wieder anders aussieht als ich es bisher gedacht habe. Diesen Moment der Unsicherheit zuzulassen und sich die Blöße des Zweifels zu geben kostet Kraft und bedarf eines sicheren Raumes. Ich brauche Menschen, denen ich vertrauen kann, dass sie mir Fehler gestatten, meine Unsicherheit aushalten und mich nicht auf meine bisherige Weltsicht festlegen.

Gleichberechtigung und Demokratie

In meiner Bildungsutopie treten wir uns als gleichberechtigte Individuen gegenüber, die in der Lage sind, aufeinander einzugehen, sich anerkennend zuhören. Doch Gleichberechtigung ist eine Utopie, die nie völlig erreicht werden kann. Deshalb wünsche ich mir – jetzt etwas realistischer – eine Gruppe, die gleichberechtigt sein will und deshalb immer wieder untersucht, wann sich wie Hierarchien etabliert haben, mit welchen gesellschaftlichen Differenzen wir zusammenkommen, wer wann warum nicht gehört wurde. Der Wunsch nach Gleichberechtigung und das Wissen, dass diese nie völlig zu erreichen ist, macht uns alle sensibel gegenüber Machtunterschieden und Barrieren. So bestimmt der Wunsch nach Gleichberechtigung nicht nur den Rahmen unseres Lernens, sondern auch die Inhalte.

3. Wie sieht dein InSeL aus?

Was das InSeL ist, hängt von den Beteiligten ab. Momentan gibt es eine Gruppe, die sich gemeinsam mit dem Referendariat auseinandersetzt, und eine, die selbstbestimmt und gleichberechtigt lernen und dieses Lernen reflektieren will. Der aktuelle Stand ist auf der Homepage (www.onlineinsel.org) zu verfolgen. Alle Interessierten seien hiermit herzlich aufgefordert, ihre Utopien einzubringen, Erfahrungen zu sammeln und sich mit auf die Suche zu machen!